Naturmedizin heute, München, 7/8 1987, S. 267-268+271

Auch in raum&zeit, München, 30, 1987, S. 31-33 unter dem Titel “Bio-Medizin in Schweden”


Naturheilverfahren in Schweden

von Jan Erik Sigdell

 

Im Sommer 1973 sammelten etwa 20 Organisationen im Reformkostsektor in Schweden Unterschriften für eine Liberalisierung der Vorschriften in Bezug auf Naturheilmittel unter dem Schlagwort „Wir wollen das Recht, frei zu wählen”. Es wurden an die 100000 Unterschriften gesammelt. Diese Meinungsäußerung des Volkes löste eine Reihe von Zeitschriftenartikel aus sowie Interpellationen im schwedischen Parlament mit Forderungen nach entsprechenden Gesetzesänderungen. Im Herbst 1973 berief infolgedessen die Regierung eine Kommission zur Untersuchung der Situation der Naturheilmittel.

Die Arbeit dieser Kommission resultierte am 1. Jan. 1978 in einer Änderung des Heilmittelgesetzes. Diese Änderung schuf einen neuen Raum für Heilmittel auf natürlicher Basis, was auch eine vorläufige Anerkennung solcher Heilmittel vonseiten des Staates her bedeutet.

In der Zwischenzeit ist vieles geschehen. Die Regierung hat unter anderem ein „Alternativmedizin-Komitee” unter Leitung von Nils Östby ernannt, das dem Sozialdepartement unterstellt ist. Die Aufgabe dieses Komitees ist, die verschiedenen sogenannten „alternativen” Methoden in der Medizin zu studieren, auszuwerten und Richtlinien für ihre Anwendungen auszuarbeiten. Zu diesen Richtlinien gehört auch die Regelung der Vergütung für natürliche Behandlungsmethoden durch die staatliche Krankenkasse. Eine weitere Aufgabe besteht darin, eine gewisse Integration von wertvollen sog. „Alternativmethoden” im staatlichen Gesundheitswesen vorzubereiten. In manchen Landesteilen wurden außerdem lokale Alternativmedizin-Komitees ernannt, die vom staatlichen Komitee mehr oder weniger unabhängig sind.

Die Haltung von staatlicher Seite gegenüber diesen sog. „Alternativmethoden” ist auffallend offen und fortschrittlich. Anders als in manchen anderen Ländern hat das Wort „Alternativmedizin” keinen negativen oder etwa anstößigen Klang, sondern wird eher im Sinne von Komplementärmedizin verstanden. Dies geht deutlich aus einer Schrift hervor, die vom staatlichen Reformkostrat unter dem Titel „Gesundheits-Führer 86” („Hälso-Guide 86”) herausgegeben wurde.

 

BIOLOGISCHE MEDIZIN DIE MEDIZIN DER ZUKUNFT

Diese Schrift enthält auch einige interessante Beiträge von Medizinern. Zum Beispiel berichtet Prof. Ingemar Petersen unter dem Titel „Großes Bedürfnis nach Zusammenarbeit zwischen alternativer und konventioneller Medizin” über die Entwicklung in der Stadt Göteborg. Es fing hier alles damit an, dass im Jahre 1983 die Universität der Stadt eine Reihe von öffentlichen Vorlesungen über Präventivmedizin veranstaltete. Zur gleichen Zeit wurde eine Gesundheitsgruppe gebildet, bestehend aus Ärzten, Psychologen, Sozialarbeitern, Vertretern von Gesundheitsbehörden etc. Man erkannte in dieser Gruppe bald das öffentliche Bedürfnis nach Information über die „Alternativmedizin”. Daher wurde die Gruppe neu gestaltet, Teilnehmer waren unter anderen Vertreter „alternativer” Medizinrichtungen wie Akupunktur, Homöopathie, gesunde Ernährung, Kräuterheilkunde. In dieser neuen Gruppierung hat die Gesundheitsgruppe die Aufgabe, den Kontakt zwischen Ärzten und „Alternativmedizinern” zu fördern, die Ausbildung in „alternativer” Medizin auch mit einer Grundausbildung in Schulmedizin zu ergänzen, sowie gemeinsame Forschungstätigkeiten in Hinsicht auf wissenschaftliche Auswertung „alternativer” Behandlungsreformen und Studien über deren Wirkungsmechanismen zu fördern. Die Göteborger Landesregierung beschloss, einen großen Betrag für diese Zusammenarbeit zur Verfügung zu stellen.

Ein weiterer interessanter Beitrag in dieser staatlichen Schrift stammt von Prof. Olov Lindahl mit dem Titel „Biologische Medizin – die Medizin der Zukunft”. Er enthält das Bild der gegenwärtigen Situation, in der sich die Schulmedizin mit neuen Ideen über Ernährung und Behandlung von Krankheiten, die außerhalb der eigenen Kreise entstanden sind, konfrontiert sieht, und wie diese Ideen von den konservativen Medizinern bekämpft werden. Er weist der Medizin in dieser Hinsicht eine wenig wissenschaftliche Haltung nach und zitiert ein wenig scherzhaft, aber gewiss nicht ohne ein Körnchen Wahrheit, die folgende Einteilung einer wissenschaftlichen Revolution in vier Stadien:

1.Stadium des Lächerlichmachens. Die Vertreter des Neuen sind Verrückte oder Fanatiker.

2.Stadium des Schweigens. Wird man die Ideen so nicht los, werden sie einfach verschwiegen, und Veröffentlichungen werden möglichst gestoppt.

3.Stadium des Angriffs. Die neue Ansicht beginnt für das Etablissement gefährlich zu werden. Man geht zum persönlichen Gegenangriff über, gegebenenfalls zu Kündigungen, Verfolgungen, zu modernen Varianten von Hexenprozessen.

4.Stadium der Akzeptation. Auf einmal akzeptiert man die neuen Ideen und kehrt ganz um. Nicht selten stellen die schlimmsten Gegner die neuen Ideen als ihre eigenen dar.

    Er illustriert dies mit namhaften Ärzten, die einen solchen „Spießrutenlauf” durchgemacht haben wie Pasteur, Harvey, Semmelweiß und Andere.

 

DER DURCHBRUCH KOMMT ÜBER DIE PATIENTEN

„Der Durchbruch kommt über die Patienten ... Es ist offenbar, dass die biologische Medizin auf dem Weg zum Durchbruch ist, sowohl in Schweden als auch weltweit. Es wurde von Berufskollegen intensiv gegen die Ärzte gearbeitet, die an der Front standen. Dass es trotzdem vorwärtsgeht, liegt an den Patienten, gewöhnlichen Menschen, die verstanden haben, worum es eigentlich geht, und welche Heilung durch neue Methoden erlebt und das Selbstverständliche in der neuen Philosophie verstanden haben.” (Prof. Lindahl, Stockholm.)

Neue Therapiemethoden, die nicht aus der klassischen Schulmedizin stammen, werden auch im schwedischen Spitalwesen studiert. Etwas überspitzt könnte man sagen, dass jedes größere forschende Spital mit Selbstachtung eine Abteilung eingerichtet hat, in der für Studienzwecke alternative Methoden an mitmachenden Patienten ernsthaft eingesetzt werden. Anders als eine konservative Schicht der Ärzteschaft, die ein Berufsmonopol bedroht sieht, ist man von staatlicher Seite her nicht bereit, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Was der Volksgesundheit und der Wirtschaftlichkeit eines staatlichen Gesundheitswesens förderlich sein kann, soll objektiv ausgewertet werden. Dass sich dies auch tatsächlich durchführen lässt, liegt wohl zum Teil daran, dass in Schweden wie in anderen Ländern junge Ärzte oft viel aufgeschlossener und deshalb eher zur Mitarbeit bereit sind. Es wird wohl in Schweden zum Teil auch daran liegen, dass durch die Organisation und wirtschaftliche Struktur des Gesundheitswesens und im Ärztestand nicht die gleichen finanziellen „Beziehungen” vorliegen, wie in vielen anderen Ländern, wo Ärzte durch eine allzu offene Haltung gewisse „vorteilhafte Beziehungen” vor allem zur Industrie verlieren können. Bestimmte marktsteuernde Machtmittel haben in Schweden einfach nicht die gleiche Wirksamkeit.

 

HIER IST ES ANDERS

In Zentraleuropa hat die Entwicklung weitgehend einen anderen Verlauf genommen. Bei den „Insidern” dabei gewesen, kann der Verfasser aus eigener Erfahrung berichten. Vor ca. zehn Jahren wurden bei Pharmaunternehmen, besonders in Deutschland, zwei Strategien von den Geschäftsleitungen in Betracht gezogen. Einerseits, besonders für mittelgroße Pharmaunternehmen, das Aufstellen eines sog. „grünen Beines”, einer Abteilung für natürliche Heilmittel, um von wachsender Nachfrage und gesteigertem Bewusstsein im Volk zu profitieren. Andererseits wurden, besonders bei den großen Pharmaunternehmen, Behörden und Regierungsstellen durch möglichst wissenschaftlich klingende Argumente „bearbeitet”, um die Konkurrenz der Natur durch neue Maßnahmen und Regelungen zurückzudrängen. An jenen Stellen sitzen Laien, die sich entsprechend leicht überzeugen lassen, und das Letztere erwies sich als weitgehend erfolgreich, sodass heute leider die zweite Strategie den Vorrang hat. Sie hat ja auch ganz besondere Vorteile für die Industrie. Sie liegen unter anderen darin, dass synthetische Präparate patentierbar sind (direkt oder über für sie notwendige Herstellungsverfahren) und deshalb eine Monopolsituation ermöglichen. Produkte der Natur sind nicht patentierbar, und Präparate ohne Monopolchancen sind geschäftlich weniger interessant.

 

DER KAMPF UM DIE MARKTHERRSCHAFT

Bemühungen dieser Art führen in Zentraleuropa zu aufwendigeren Registrierungsverfahren. Die hohen Kosten werden von der chemischen Industrie gerne getragen, weil man weiß, dass der kleine „grüne” Bruder finanziell» nicht mehr so leicht mitkommt – außerdem erlaubt eine monopolistische Situation viel eher das Abwälzen von Mehrkosten auf die Verbraucher. Die Ausrede ist dann, dies würde den Verbraucher vor zweifelhaften Produkten schützen ... Die chemische Industrie bemüht sich auch um ihre Monopolisierung bei den Krankenkassen – Heilmittel, die der Verbraucher aus der eigenen Tasche bezahlen muss, sind dadurch stark benachteiligt. Dass er die Kosten für kassenzulässige Mittel und Behandlungsmethoden gleichwohl über die stetig steigenden Gebühren berappen muss, fällt ihm weniger auf.

Man bemüht sich weiter noch darum, bei natürlichen Heilmitteln einerseits therapeutische Unwirksamkeit „nachzuweisen” (was bei absichtlichem Messen irrelevanter Daten und Wirkungen, wobei man die wesentlichen außer Acht lässt, auf den nicht Fachkundigen sehr wissenschaftlich und sehr überzeugend wirken mag) und andererseits ihnen schädliche Wirkungen nachzuweisen. Ein Beispiel für das Letztere ist das Verbot des pflanzlich-homöopathischen Kombinationsmittels „Traumeel” in Deutschland*, weil es einen Auszug aus Osterluzei enthält, aber in einer nur homöopathisch wirksamen Verdünnung von l zu 50000 ... Man soll nämlich in wissenschaftlichen Laboratorien nachgewiesen haben (ohne Zweifel mit hohen Konzentrationen und hautreizenden Aufbringungsarten), dass eine Substanz in der Osterluzei bei Tieren krebserregend sein kann. Dabei ist im aktuellen Mittel die Menge doch sehr viel geringer als bei den viel schädlicheren und nicht natürlichen Substanzen, die wir täglich mit Nahrungsmitteln einnehmen – Giftstoffe aus Umweltverschmutzung und Landwirtschaftschemie.

Auf der gleichen Linie liegen gerüchtegemäß Bestrebungen, Sonnenhutpräparate (die mit ausgesprochen stimulierender Wirkung auf die Körperabwehr eine ärgerliche Konkurrenz zu chemischen Mitteln ausmachen) und das heilsame Beinwell durch Verbot auszuschalten. Dass aber die chemischen Mittel gefährliche Nebenwirkungen haben können, wird verschwiegen, oder auch – wo dies unumgänglich wird – als Preis dargestellt, den ein wirksames Mittel erfordere ...

Zwei Beispiele sollen hier genügen: Der Ausdruck „Phenazetin-Niere” ist vielen Ärzten geläufig, die mit Dialyse zu tun haben, dem lebensnotwendig gewordenen Ersatz der Nierenfunktion durch einen technischen Apparat. Phenazetin ist die Wirksubstanz vieler Schmerzmittel, die jahrzehntelang in Gebrauch waren, und worin erst vor ca. zwei Jahren diese Substanz gegen eine neue ausgetauscht wurde. Die Nierenschädlichkeit ist aber mindestens 20 Jahre lang bekannt. Ein anderes Beispiel ist die neue Entdeckung, dass manche gefäßerweiternde Mittel, die übrigens für periphere Durchblutungsstörungen infolge arteriosklerotischer Veränderungen ziemlich nutzlos sind (sie wirken eher auf das gesunde, als auf das kranke Gewebe und entziehen dem Letzteren oft das Blut), zu Parkinsonismus führen können.

Man zieht allzu gerne daraus Nutzen, dass diejenigen mit Entscheidungsgewalt meistens medizinische Laien sind, und bietet ihnen an, die Verantwortung durch „wissenschaftliche Dokumentation” abzunehmen. Für Entscheidungen zugunsten der Therapie- und Wahlfreiheit müssten diese Personen selbst die Verantwortung tragen, was sie wohl gerne vermeiden. So wird die Welt manipuliert ... Die Devise scheint zu sein: „Nur auf unsere Weise – sonst soll der Patient gefälligst auf die Gesundheit verzichten" und auch: „Nur die teuerste Lösung ist wissenschaftlich und (der Industrie) gut genug." dass sich dies aber nicht durchsetzen muss, zeigt das Beispiel aus Schweden.

 

ZWEI ZITATE

„Der Schlüssel zum Profit in der [Heilmittel-] Industrie liegt in der Entwicklung von patentgeschützten neuen Heilmittelprodukten ... Auslaufende Patente üben Druck auf die Gewinnmargen der nächsten Jahre aus, wodurch der Bedarf an neuen patentierten Heilmitteln spürbarer wird." (Standard and Poor's Industry Survey, New York, 1977.)

„Die Fabrikation von nicht-patentierten Heilmitteln führt zu nur mäßigem Profit, die Fabrikation von patentierten Heilmitteln dagegen führt zu außergewöhnlich hohem Profit. Heilmittelhersteller sind deshalb bestrebt, den Markt mit allen nur denkbaren Mitteln in eine Richtung zu steuern, die den Verkauf von hochprofitablen patentierten Heilmitteln bedeutet." (Medical Committee for Human Rights – Medizinisches Komitee für Menschenrechte – Billions for Band-Aids, San Francisco, 1972.)

 

GEGENREAKTIONEN

Das Sozialdepartement hat eine breit ausgelegte Studie an ca. 20000 Patienten mit Methoden der sog. „Alternativmedizin" durchgeführt. Teilberichte liegen schon vor, und ein vollständiger Bericht wird im Sommer 1987 erwartet.

Das Ergebnis dieser Studie ist so positiv für die „Alternativmethoden", dass eine Gleichstellung vieler dieser Methoden mit konventionellen Methoden der „Schulmedizin" erwartet wird. Dies wird dann zu einer Wahlfreiheit des Arztes führen, und die Kassen werden Behandlungen mit „Alternativmethoden" genauso vergüten.

Diese Studie wird von einigen Vertretern der schwedischen Heilmittelindustrie (wenn auch dort z.T. „widerwillig") als richtungsweisend für die 90er Jahre gesehen.

Der Heilmittelmarkt hat in Schweden im Laufe der letzten Jahre stagniert, als Folge lebhafter Diskussionen um Nebenwirkungen. Dies wirkt auch positiv auf die Beurteilung von Naturmethoden ein. Junge klinische Ärzte (und nicht etwa nur in eher privater Praxis) stellen sich im Allgemeinen positiv zu natürlichen Behandlungsweisen, wenn auch die konservativeren Ärzte vor allem älterer Generationen zurückhaltender sind, sodass die Einführung natürlicher Methoden in Kliniken ohne allzu große Schwierigkeiten erwartet wird.

Nach dem Bekanntwerden solcher Vorausmeldungen ließen Gegenaktionen nicht lange auf sich warten. Ab Ende Dezember 1986 erschienen in verschiedenen schwedischen Tageszeitungen Artikel über die Naturmedizin, die alles sehr infrage stellten. Es war immer wieder die Rede von „ungeprüften Wirkungen", „unerwiesenen Behauptungen", Skepsis der Schulmedizin, usw. Interviewte Ärzte äußerten sich eher negativ über natürliche Behandlungsmethoden.

Ein mir persönlich bekannter Wissenschaftsjournalist, der objektiv über die natürliche Medizin geschrieben hat, hat den Verantwortlichen einer dieser Tageszeitungen angerufen, mit der Frage, wieso keine Fachkräfte der Naturmedizin zu Worte kommen durften. Der angerufene Journalist soll „sehr belästigt" reagiert haben und konnte keine vernünftige Erklärung geben.

Der Verdacht liegt nahe, dass gewisse Marktinteressen den Anstoß gegeben haben, um einer stärkeren Bedrohung durch eine Konkurrenz im Volk entgegenzuwirken. Nicht wer heilt, soll recht haben, sondern wer den Markt und die allgemeine Meinungsbildung beherrscht. Allerdings gibt es solche Erscheinungen auf beiden Seiten der Front, jedoch hat eine Seite viel größere Mittel.

Scharlatanerie ist eben auch, Wirksamkeiten herabwerten und den Patienten Methoden vorenthalten zu wollen, die ins Geschäftskonzept nicht gut hineinpassen.

 

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* Das Mittel ist inzwischen ohne diesen Bestandteil wieder auf dem Markt.