Sökaren („Der Sucher”, Schweden) 6/1998, S. 15-17 – übersetzt

Debatte

 

ORIGENES

und der Reinkarnationsgedanke

Von Jan Erik Sigdell

 

DER GELEHRTE ORIGENES 

Die Kirche in ihrer heutigen Form wurde mit dem Konzil in Nicäa im Jahre 325 gegründet. Deshalb unterscheidet man oft zwischen prä- und postnizäanischen Kirchenväter. Origenes war der bedeutendsten der Ersteren und eine der meistgelehrten Personen seiner Zeit. Seine mindestens 2000 Schriften wurden alle verbrannt, zum größten Teil am Ende des 6. Jahrhunderts. Was übrig geblieben ist, sind nur einige Fragmente der Originaltexte in Griechisch und einige Zitate seiner Gegner sowie lateinische Übersetzungen. Die in diesem Zusammenhang wichtigste Schrift ist Perì Archon, die von Rufinus (ca. 345 - ca. 410) übersetzt wurde. Einige Reste der Übersetzung des Hieronymus (340 - 419 od. 420) in die gleiche Sprache liegen auch vor, aber vom Originaltext ist fast nichts übrig geblieben.

 

NEUE FUNDE ENTLARVEN MANIPULIERTE ÜBERSETZUNGEN

Rufinus gibt im Vorwort selbst offen zu, dass er, wie auch sein Vorgänger Hieronymus, den Text nach dem Dogma der Kirche „zurechtgelegt“ zu haben [1]. Als Vorwand für seine Zensur und seinen Eingriff wird behauptet, dass die griechische Textvorlage des Rufinus durch Häretiker und böswillige Personen manipuliert gewesen sein solle. Rufinus sagt deshalb, dass er den Text zu seinem „ursprünglichen Zustand zurückgeführt“ habe. Wir werden bald sehen, wie es damit ist … Ganz sicher ist aber zunächst, dass jede positive Äußerung des Origenes über die Reinkarnationen – sofern es solche Äußerungen gab – selbstverständlich dementsprechend durch Rufinus „zurechtgelegt“ geworden sein muss.

Im Jahre 1941 fand man in Toura im Norden von Ägypten 28 Papyrusblätter mit einer Originalschrift von Origenes zu einem anderen Thema: Seine Kommentare zum Römerbrief. Man konnte nun zum ersten Mal eine solche Übersetzung mit dem Original vergleichen, was sehr entlarvend wurde. Die Arbeit wurde vom französischen Wissenschaftler Jean Scherrer [2] durchgeführt. Er zeigt, dass Rufinus:

 

„Ein persönlicher, tief greifender und mehrfacher Eingriff im Text … ist durchgeführt worden … er ist eine Mischung von authentischen origenistischen Elementen, umgearbeiteten origenistischen Elementen und nicht-origenistischen Elementen.” [2]

 

HAT ORIGENES DIE REINKARNATION GELEHRT?

Origenes wurde bereits zu einer Zeit, als es die Originaltexte noch gab, wiederholt dafür kritisiert, die Reinkarnation gelehrt zu haben. Da die vorliegenden Texte nunmehr erwiesenermaßen manipuliert sind, ist kein Grund mehr vorhanden, um solche Aussagen zu bestreiten – obwohl die Kirche das gerne tun möchte. Was in einem derartigen Ausmaß für Rufinus’ Version von den Kommentaren zum Römerbrief gilt, gilt selbstverständlich gleichermaßen für Perì Archon und die anderen Origenes-Texte, die (ebenfalls nur in lateinischer Übersetzung) noch vorhanden sind.

Wir stehen vor ähnlichen Schwierigkeiten, wenn wir mit den vorliegenden Texten die Hypothese prüfen wollen, ob Origenes tatsächlich die Reinkarnation gelehrt habe. Hier erweisen sich u.a. bestimmte Lücken im Test als unerwartet hilfreich! Was man weggenommen hat, wird uns zum Nutzen … abgesehen davon, dass einige wenige stellen im Text Rufinus’ Zensur entgangen sind.

Origenes schreibt in Perì Archon, dass wir sozusagen gefallene Engel seien. Wir waren in der ursprünglichen Schöpfung alle dabei. Aber einige der Wesenheiten in ihr – nämlich wir – wandten sich von Gott ab und wollten etwas anderes erleben, als nur das, was Gottes harmonische und liebevolle Lichtwelt zu bieten hatte. Darum versetzte und Gott in niedereren Bewusstseinszuständen auf verschiedenen Ebenen in einer Hierarchie unter Ihm. Diejenige, die zur zweituntersten Ebene fielen, wurden zu Seelen, die nach Origenes zur Strafe in Menschenkörper versetzt wurden, wie in  Gefängnisse. Auf der untersten Ebene seien Dämonen und Widersacher. [1]

 

WAS FOLGT NACH DEM TOD?

Was geschieht dann – immer noch nach Origenes – wenn ein Mensch stirbt? War er gut genug, darf die Seele zu einer höheren Ebene steigen, wo sie nicht mehr einen physischen Körper hat. War sie aber schlecht genug, kann die Seele zur untersten Ebene fallen, der Ebene der Dämonen. Einige ziehen statt dessen vor, in Tierkörper einzugehen. [1]

Hier fällt eine dritte Alternative durch ihre offensichtliche Abwesenheit auf! Was geschieht, wenn der Mensch weder gut genug war, um eine Stufe höher zu steigen, noch schlecht genug, um zur tiefsten Ebene zu fallen? Das betrifft ja die meisten von uns, wird aber im vorliegenden Text nicht erwähnt. Man weiß jedoch, dass Origenes eine umfassende Abhandlung über die Seele geschrieben hatte, die aber unter den heute noch vorhandenen Texten fehlt [1]. Darin wird mit Sicherheit diese Frage beantwortet! Um in Origenes’ System hineinzupassen, kann die Antwort nur eine sein: Eine solche Seele wird wieder Mensch!

Man mag dann versuchen, zum Begriff Fegfeuer auszuweichen. Aber es zeigt sich, dass der Fegfeuerbegriff des Origenes ein anderer ist, als derjenige der Kirche, der zum ersten Mal im Zusammenhang mit dem Konzil in Lyon 1245 als Dogma erklärt wurde. Für Origenes ist das sog. Fegfeuer nur die Scham, die Schuldgefühle und die Reue, die in uns aufsteigen. Die Einsicht über alles Ungerechte und Böse, das wir getan haben – die nach dem Tod kommt – brennt wie ein Feuer in der Seele. Hieronymus bezeichnete dies als „Brand des Gewissens”. Die Folgen davon zeigen sich bald in einem neuen Leben, da unser Schicksal im Erdenleben von unseren Tugenden und Verfehlungen vor der Geburt bestimmt wird [1]. Das ist nun tatsächlich eine Form von Karmabegriff!

Nun hat man sich in der Theologie darum bemüht, es so aussehen zu lassen, wie wenn Origenes eine Wiedergeburt in einem neuen Körper gemeint habe, wozu es nicht in unserem, sondern erst in einem neuen Zeitalter kommen solle, in einer neuen Schöpfung in einem zukünftigen Äon. Auch wenn Rufinus’ Textversion an manchen Stellen diesen Eindruck machen mag, gibt es offensichtlich keine Garantie dafür, dass Origenes wirklich so geschrieben hat! Siehe oben … Hier kann man eher mit weiteren Fällen von Rufinus’ „Zurechtlegungen” rechnen.

 

DAS KONZIL IN KONSTANTINOPEL

Eine andere These der Kirche, die durch die eigene historische Forschung in der Theologie stark infrage gestellt wurde, ist die der offiziellen Verurteilung der Lehre von der Vorexistenz der Seele – d.h., dass die Seele vor der Geburt existiert haben sollte – beim Konzil in Konstantinopel im Jahre 553. Eine Verurteilung der Thesen des Origenes über diese Sache fehlt in allen noch vorhandenen Versionen der Konzilsunterlagen, außer in einer. Diese wurde am Ende des 18. Jahrhunderts in Wien aufgefunden. Ein separates Blatt enthielt Bannflüche gegen Origenes. Man nahm dann an, dass diese Bannflüche durch das Konzil ausgesprochen worden seien.

Spätere kirchenhistorische Forschung hat gezeigt, dass das höchst wahrscheinlich nicht so ist. Die erste Untersuchung wurde 1899 von Diekamp in einer Habilitationsschrift vorgelegt [3]. Später haben sich auch andere Kirchenhistoriker mit dieser Frage befasst [4-6].

 

WAS WIRKLICH GESCHAH

Das hervortretende Bild ist das folgende. Im Jahre 543, also 10 Jahre vorher, gab Kaiser Justinian in einem Brief an den Patriarchen Menas in Konstantinopel den Auftrag, zu einer Sitzung einer lokalen und ständigen Synode (sýnodos éndemousa) zu rufen, um eine Anzahl von Bannflüchen gegen origenistische Thesen aufzustellen. Justinian gibt in seinem Brief selbst eine Anzahl solcher Bannflüche an und bei der Sitzung, die im gleichen Jahr stattfand, wurde eine ähnliche Reihe von Bannflüchen formuliert. Diese stimmen mit dem Text überein, der in Wien gefunden wurde.

Mehrere Jahre später entstand die Idee, zu einem Konzil zu rufen, um drei schon lange verstorbene Bischöfe für ihre angeblich ketzerischen Texte zu verurteilen. Keiner dieser Texte hatte mit Origenes zu tun und es widersprach übrigens die Konzilientradition, eine Person nach ihrem Tod zu verurteilen. Der Papst Vigilius war dagegen und wurde dann von den Soldaten des Kaisers mit Gewalt von Rom entführt. Er suchte Zuflucht in einer Kirche in Konstantinopel, wurde aber wieder gefangen genommen, und man gab ihm ein luxuriöses Gefängnis im Kaiserpalast. Er konnte jedoch fliehen und nach einigen Briefen in sehr groben Worten versprach ihm der Kaiser schließlich, ihm nichts anzutun, wenn er nur zurückkäme. Nun wollte man im Jahr 553 das Konzil eröffnen.

 

DER PAPST WOLLTE NICHT

Der Papst kam jedoch nicht zur Eröffnungssitzung. Während des Wartens brachte der Kaiser die nunmehr 10 Jahre alten Bannflüche des Origenes hervor, vermutlich in einer neuen Niederschrift mit dem gleichen Inhalt, und verlangte die Unterschriften der Bischöfe. Da ein Widerspruch gegen den Kaiser oft mit Lebensgefahr verbunden war, werden wohl die meisten ohne große Überzeugung ihren Namen hinzugeschrieben haben. Das Konzil wurde nicht eröffnet, da ja der Papst fernblieb.

Man traf sich später wieder und der Papst kam immer noch nicht. Nun erklärte der Kaiser das Konzil als ohne den Papst eröffnet, was auch gegen die Konzilstradition war. Bei der nächsten Sitzung wurde der Name des Papstes aus den Diptychen gestrichen, was effektiv bedeutet, dass er abgesetzt wurde. Der alte Mann wurde zu Fronarbeit verurteilt und musste ein halbes Jahr lang in eine Grube Steine schleppen, bis er nachgab und nachträglich die Konzilsbeschlüsse schriftlich zustimmte. Er erwähnte aber mit keinem Wort Origenes noch seine Lehren [4]. Er wusste vermutlich über das Vorspiel vor der Konzilseröffnung nicht Bescheid.

Die Bannflüche sind also nicht ein Konzilsbeschluss und kein Papst hat ex cathedra Origenes und seine Lehren verurteilt. Dem Christen ist demnach nie verboten worden, an die Präexistenz zu glauben, und auch nicht an die Reinkarnation …

 

DER ERSTE BANNFLUCH GEGEN ORIGENES

Der erste Bannfluch hat eine eigenartige Formulierung: „Wenn jemand die erdichtete Existenz der Seele vor der Geburt und die daraus folgende ungeheuerliche Wiederherstellung vertritt, so ist er verdammt”. Hier har der griechische Text für Wiederherstellung das Wort apokatástasis, womit man in der Theologie normalerweise die Wiederherstellung von Gottes Schöpfung in ihrer ursprünglichen wunderbaren Ordnung meint, wobei alle Seelen wieder mit Gott vereinigt werden. Aber das kann ja hier nicht gemeint sein, da von einer „ungeheuerlichen” (teratodi) Wiederherstellung die Rede ist. Was hat man dann gemeint? Vielleicht die Wiederherstellung eines neuen Körpers für die Seele? Vielleicht die Reinkarnation, ohne sie beim Namen zu nennen? Das wäre für das Dogma „ungeheuerlich” … Vielleicht liegt hierin noch ein Indiz dafür, dass Origenes wirklich die Reinkarnation gelehrt hat. Auf jeden Fall lehrte er die Vorexistenz der Seele, wogegen sich der Bannfluch an erster Stelle wendet.

 

Referenzen

  1. Die bisher beste Übersetzung der Rufinus-Version ist ohne Zweifel: Origenes: Vier Bücher über die Prinzipien, übersetzt, kommentiert und von anderen Quellen her teilweise ergänzt durch Herwig Görgemanns und Heinrich Karpp, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 2. Aufl. 1985.
  2. Jean Scherrer: Le Commentaire d’Origéne sur Rom. III.5-V,7, Institut Français d’Archéologie Orientale, Kairo, 1952.
  3. Franz Diekamp: Die origenistischen Streitigkeiten im sechsten Jahrhundert und das fünfte allgemeine Concil, Aschendorff, Münster, 1899.
  4. Charles Joseph Hefele und H. Leclercq: Histoire des Conciles, Letouzey et Ané, Paris, Teil II, 2. Abschnitt, 1908, S. 1182-1196 und  Teil III, 1. Abschnitt, 1909, S. 1-132.
  5. Ferdinand Prat in The Catholic Encyclopedia, band XI. S. 311-312, hg. von Ch. Herbermann, Appleton, New York, 1913.
  6. Fritz in Dictionnaire de la Théologie Catholique, Bd. 3, 1. Teil, Letouzey et Ané, Paris, 1938, Spalten 1580-1585.