Wassermann-Zeitalter 1/99, S. 61-63

REINKARNATIONSLEHRE

Das fehlende Glied des wahren Christentums

Dr. Jan Erik Sigdell

 

Es wird immer wieder darüber gestritten, ob die Reinkarnationslehre christlich sein kann, oder nicht, und ob die Bibel sie stützt oder widerspricht. Ich habe eine umfassende Studie zum Thema Reinkarnation, Kirche und Christentum geschrieben, die erst noch in Manuskriptform vorliegt aber auf jahrelangen Recherchen in alten und neuen theologischen Schriften basiert. Daraus sei hier eine erste Antwort auf den Artikel von Gabriel Looser Wassermann-Zeitalter 5/98 ("Die Lehre von der Reinkarnation und Karma – ist sie mit dem christlichen Glauben vereinbar?" S. 32.34) gegeben. Ich respektiere sehr die Äußerungen jenes Verfassers, den ich auch persönlich kennengelernt habe, will aber im allgemeinen Sinne übliche theologische Meinungen zu diesem Thema kommentieren.

 

Zunächst ist es zu einfach dargestellt, wenn man behauptet, dass die Gnostiker ihre Reinkarnationsvorstellungen nur von der griechischen Philosophie her gehabt hätten. Jüdische Quellen bestätigen nämlich, dass es innerhalb vom damaligen Judentum auch reinkarnationsgläubige Gruppierungen gab (vgl. das denken des Jüngers beim Blindgeborenen, s.u.). Die Gnostiker hatten sie natürlich von dort auch. Sie behaupteten, Anteil an eine Überlieferung der Belehrungen Jesu an seine Jünger zu haben, was man offensichtlich nicht sehr von den Evangelien behaupten kann, die eher die öffentliche Äußerungen an das Volk beinhalten. Demnach soll – so die Gnostiker – Jesus im inneren Kreis die Reinkarnation gelehrt haben. Das bestreitet natürlich die Kirche sehr, aber heute kann weder das eine noch das andere bewiesen werden. Bedenkenswert sind aber Jesu eigene Worte: "Ich habe euch noch viel zu sagen, aber ihr könntet es jetzt nicht ertragen" (Joh. 16.12). Eine zu diesem Thema wichtige gnostische Schrift ist Pistis Sophia, die über Belehrungen des nach der Kreuzigung wiedererschienene Jesus an seinen Jünger berichtet. Darin spricht Jesus deutlich über Reinkarnation und Karma. Die kirchliche Theologie behauptet, dass die Schrift erfunden sei. Auch hier wird sich aber in Beweisnot befinden.

In Wirklichkeit scheint die Reinkarnationslehre das fehlende Glied zu sein, das die Urchristen noch hatten aber die Kirche beseitigte. Das uralte Theodizee‑Problem, worauf die Kirche immer noch keine überzeugende Antwort hat, findet eine annehmbare Lösung durch den Begriff des freien Willens, aber nicht durch ihn alleine, sondern nur in Verbindung mit der Reinkarnation. Dies wird in meiner Schrift ausführlich dargestellt. Dieses Problem ist: Wie kann die Welt voll von Leid sein, wenn doch Gott die absolute Liebe und zudem allmächtig ist? Die Lehre von der ewigen Verdammnis steht jedenfalls in einem krassen Widerspruch zur Liebe Gottes! Dass er aber Seelen in neuen Verkörperungen neue Chancen gibt ist wirklich seine große Gnade.

 

Der Blindgeborene

Es ist eigenartig, wie theologische Autoren den wesentlichen Aspekt immer wieder ausweichend auf die Seite schieben, um nur auf Jesu Antwort hinzuweisen, die aber die Frage offen lässt. Der Jünger, aber, der fragte: “... Meister, wer hat gesündigt? Dieser oder seine Eltern, sodass er blind geboren wurde?" (Joh. 9.2), hat ganz offensichtlich an die Präexistenz der Seele gedacht, vielleicht sogar an die Reinkarnation, da sonst seine Formulierung reiner Unsinn wäre! Wie hätte denn der Mann – die eine Alternative in der Frage – als Folge blind geboren werden können, wenn die Ursache nicht vor der Geburt läge? Im Mittelalter versuchte man das "Rätsel" so zu lösen, dass er bereits im Mutterleib "böse Gedanken" hätte gehabt haben können. So etwas kann heute niemand mehr ernst nehmen. Und wo wäre da die Gerechtigkeit, da solche eventuelle "böse Gedanken" in gar keinem zumutbaren Verhältnis zum jahrzehntelangen Leid durch das Blindsein ständen?

Das Wichtige ist hier also, dass einer der Jünger Jesu ganz offensichtlich an eine vorgeburtliche Existenz gedacht hat! Jesu Antwort ist natürlich wichtig, aber hier doch eine andere Sache, und in Hinsicht auf die Frage der Präexistenz ausweichend.

 

War Johannes der Täufer Elias?

Auch hier weicht man gerne auf eine an sich irrelevante Stelle aus: die, wo Johannes bestreitet, Elias zu sein (Joh. 1.21). Demgegenüber steht die Aussage Jesu, dass er tatsächlich Elias sei (Matth. 11.14 und 17.10‑13). Hier haben wir einen direkten Widerspruch! Wer von den beiden soll nun dem rechtgläubigen Christ die größere Autorität sein? Und ist denn Johannes' Antwort maßgebend? Erstens könnte es doch sehr gut sein, dass er selbst nicht wusste was Jesus über ihn wusste, so wie wir normalerweise auch nicht wissen, wer wir früher einmal waren. Johannes kann aber auch ausweichend geantwortet haben, im Sinne von "Ich bin jetzt nicht Elias, sondern Johannes (aber ich bin einmal Elias gewesen)." Eine richtige Antwort, auch wenn er in dem Fall das Letztere für sich behielt …

 

Der gekreuzigte Übeltäter

Jesus sagte zu einem der zwei Verbrecher, die mit ihm gekreuzigt wurden, dass er "noch heute" mit ihm im Paradiese sein werde (Luk. 23.43). Widerspricht dies der Reinkarnation? Jener Übeltäter zeigte eine große Reue und Demut (Luk. 23.40‑42). Dadurch wurde er vom Karma erlöst! Die östlichen Karmalehren kennen kaum eine solche Gnade, die christliche Reinkarnationslehre sehr wohl … Der andere Übeltäter wurde offensichtlich nicht begnadigt. Was war dann mit ihm? Ewige Verdammnis oder eine Bewährungsprobe in einer neuen Verkörperung? Außerdem: Was spricht dagegen, dass der Begnadigte später auch wieder verkörpert wurde? Er hatte dann jedenfalls erst eine durch die Reue wohl verdiente Erholung in der paradiesischen Lichtwelt. Danach kann er für "eine neue Runde" wieder inkarniert geworden sein, aber mit Sicherheit unter weit angenehmeren Umständen, um anderes Karma zu erledigen (vielleicht von anderen Vorleben her). Ähnliches wird in Rückführungserlebnissen immer wieder berichtet.

 

Der Haupteinwand

Die Lehre der Reinkarnation wird vom kirchlichen Dogma abgelehnt. Lehnt sie auch die Bibel ab? Hier antworten die Theologen des Kirchendogma ad nauseam meistens mit nur dem einen Bibelwort – es scheint tatsächlich kein anderes zu geben, das einen direkten Einwand zu beinhalten scheint: "Und wie dem Menschen bestimmt ist, ein Mal zu sterben, worauf das Gericht folgt …" (Hebr. 9.27). Einmal sterben – also nur einmal leben …

Was heißt hier "ein Mal"? Wir müssen zum altgriechischen Text zurückgehen und diesen untersuchen. Die griechischen Wörterbücher geben mehrere mögliche Übersetzungen vom hier verwendeten Wort hapax an [1]:

    1. "ein (einziges) Mal",             4. "ein für alle Mal",                 7. "wiederholte Male",

    2. "irgendein Mal",                   5. "noch ein Mal”,                    8. "ein oder ander Mal" und  

    3. "überhaupt”,                        6. "ein letztes Mal",                  9. "auf einmal."

 

Damit ist dieser Einwand unhaltbar! Er kann, im Gegenteil, sogar als Hinweis auf die Möglichkeit der Wiederverkörperung verstanden werden …

 

Hätte Nikodemus über die Reinkarnation Bescheid wissen sollen?

Ein besonderer Hinweis darauf, dass die Reinkarnation dem Neuen Testament gar nicht so fremd sein muss, wie man es meistens darstellen will, finden wir im Nikodemusgespräch. Jesus sagt: "Wahrlich, wahrlich', Ich sage dir: Wenn nicht jemand von Neuem geboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen." Nikodemus spricht zu Ihm: "Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist? Kann er wieder in den Leib seiner Mutter gehen und geboren werden?" (Joh. 3.34, vgl. Joh. 3.7).

Nikodemus denkt also nicht an die Möglichkeit, dass es der Leib einer neuen Mutter sein könnte! Nun hat man hin und her gedeutet, was wohl das verwendete griechische Wort anothen hier bedeuten soll. Unbestreitbar ist, dass es zwei Bedeutungen haben kann: "wieder, aufs Neue, noch ein Mal", sowie "von oben her" [geboren werden]. Es könnte aber auch bedeuten: "von innen her”, “von früher her”, “von den Vorfahren her" oder “vom Grunde auf” [geboren werden]. Um Deutungen im Sinne der Reinkarnation zu entgegnen, will man heute eher die Übersetzung "von oben her" vorziehen. Nur die Übersetzung "wieder, noch einmal" kann alleine die richtige sein, da es ja Nikodemus so versteht! Nach der Fachliteratur soll es kein derart zweideutiges aramäisches Wort geben [2], sodass man davon ausgehen muss, dass Jesus ein ziemlich eindeutiges Wort mit gerade dieser Bedeutung verwendet haben wird. Hätte er ein ebenfalls ziemlich eindeutiges Wort mit der Bedeutung "von oben her" verwendet, hätte ihn Nikodemus nicht so verstehen können, wie er es tat. Die "Doppeldeutigkeitserklärung" bezieht sich einzig nur auf die griechische Übersetzung, aber da sie Aramäisch sprachen, muss dieser Erklärungsversuch als ein irreführender Kunstgriff gesehen werden.

 

Aramäischer Urtext nicht erhältlich

Die theologische Literatur will hier stets geltend machen, dass anothen die Übersetzung vom aramäischen Wort mill'ela sei, dessen einzige Bedeutung "von oben her” ist [3,4]. Da der Urtext in Aramäisch nun einmal nicht zugänglich ist, fällt solches Behaupten leicht … Diese dogmatisch vorgefasste Rückwärts‑Auslegung überzeugt aber gar nicht davon, dass es nicht ebenso gut ein anderes Wort gewesen sein könnte, das "wieder” bedeutet. Zum Beispiel chadat, tanyanut oder ein dem hebräischen Wort 'od verwandtes aramäisches Wort.

Jesus sagt dann: “... Wenn nicht jemand aus Wasser und Geist geboren wird, so kann er nicht in Gottes Reich kommen." (Joh. 3.5). Mehrere Theologen halten hier "aus Wasser" für eine spätere Einfügung [5]. Bleibt also mit Sicherheit nur "aus Geist", womit nicht bestritten wird, dass es sich hier um eine Seele oder einen Geist handeln könne, der zum Geborenwerden (wieder) hineingeht.

 

Taufe ohne Wasser?

Die übliche Deutung vom an dieser Stelle unsicheren Wort "Wasser" bezieht sich auf die Taufe. Man müsse auch getauft werden, bevor man in den Himmel kommen kann. Dies muss an dieser Stelle als zweifelhaft erscheinen, da zu jener Zeit die Taufe noch nicht ein christliches Sakrament geworden war. Erst später in der Bibel – abgesehen nur von Jesu eigener Taufe durch Johannes – erfahren wir, dass die Jünger angefangen hatten, zu taufen (aber nicht Jesus selbst) (Joh. 4.1‑2) und erst bei der Wiedererscheinung gab er den Jüngern den Auftrag, alle im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geists zu taufen (Matth. 28.19) (vgl. [6]). Mit dem Letzteren muss nicht unbedingt eine Taufe mit Wasser gemeint sein (Matth. 3.11, Mark. 1.8, Luk. 3.16, Joh. 1.26). “Jesu Gespräch mit Nikodemus ... wird erst für christliche Leser auf die Taufe beziehbar" [7]. Also eigentlich erst nachträglich zu jener Gegebenheit …

 

Der Taufauftrag – eine Fälschung?

Der Taufauftrag in Matth. 28.19 wird allerdings von manchen theologischen Forschem als eine spätere Fälschung gesehen [8]. Das griechische Wort für “Taufe", baptisma, ist eine erst im Neuen Testament auftauchende Abwandlung des Wortes bapto, das "eintauchen" bedeutet. Ein "Eintauchen in den Heiligen Geist' und eine Handvoll Wasser auf den Kopf schütten können eigentlich recht unterschiedliche Dinge sein …

"Der Wind weht, wie er will und du hörst wohl ein Sausen, aber du weißt nicht, woher er kommt noch wohin er fährt. So ist es mit jedem, der aus Geist geboren ist." (Joh. 3.8). Hier hat man das griechische Wort pneuma in der gleichen Bibelstelle zweierlei übersetzt! Eine Bedeutung davon ist "Wind", eine andere ist "belebendes Prinzip" oder "Lebenshauch" im Sinne von Seele und im übertragenen Sinne auch “Geist” [9]. Das gleiche Wort wird am Schluss des Zitates eben als “[aus] Geist [geboren]" übersetzt. Außerdem ist die Übersetzung von phonen = Stimme mit "Sausen" doch ziemlich im "übertragenen Sinne." Man kann es also wie folgt verstehen: "Die Seele kommt von irgendwo her und du hörst wohl [in dir] ihre Stimme, aber du weißt nicht, von wo sie kommt oder wohin sie [danach] weiter geht. So ist es mit jedem, der mit einer Seele geboren ist." Wer soll da nicht an die Präexistenz denken, oder gar an die Reinkarnation?

 

Was verstand Nikodemus nicht?

Diese entscheidend wichtige Stelle widerspricht einer manchmal erhobenen Behauptung, dass Jesus von einer Wiedergeburt in diesem Leben gesprochen und dass Nikodemus ihn in diesem Sinne verstanden hätte [10: S. 42]. Offensichtlich verstand Nikodemus gar nicht, was Jesus meinte, weil ihm gesagt wurde: "Bist du ein Meister in Israel und weißt das nicht?" (Joh. 3:10). Was hätte er wissen sollen? Das steht nicht.

Vielleicht dann doch von der Reinkarnation?

 

Adresse des Verfassers: Dutovlje 105, SI-6221 DUTOVLJE, Slowenien

 

Referenzen

    1. Gerhard Kittel: Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Bd. 1, Kohlhammer, Stuttgart, 1933.
    2. Rudolf Schnackenburg: Das Johannesevangelium, Teil I, Herder, Freiburg, 1986, S. 381.
    3. The Interpreter’s Bible, Bd. VIII, Albingdon Press, New York/Nashville, 1952, S. 504.
    4. Gerhard Kittel: Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Bd. 1, s.o. Hier wird auch in anderer Weise ohne große Überzeugungskraft versucht, die Übersetzung des Wortes anothen mit "wieder" als unglaubwürdig darzustellen. Dass sie "gar nicht die Behandlung des Nikodemus durch Jesus" entspräche, reimt nun einmal gar nicht mit der Interpretation oben! Eine Interpretation die zwar für das Dogma anstößig, jedoch sprachlich klar begründbar ist.
    5. Schnackenburg, s.o., S. 383.
    6. The Encyclopedia of Religion, hg. V Mircea Eliade, Bd. 2, MacMillan, New York, 1987, S.61.
    7. Lexikon für Theologie und Kirche, hg. v. Josef Höfer und Karl Rahner, Bd. 9, Herder, Freiburg, 1964, Sp. 1312.
    8. Karlheinz Deschner: "Die Taufe" in Der gefälschte Glaube, Knesebeck & Schuler, München, 1988, S. 99‑122, mit Hinweisen auf Schriften namhafter Theologen.
    9. Gerhard Friedrich: Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament (begründet von G. Kittel), Bd. 6, Kohlhammer, Stuttgart, 1959.
    10. Mark C. Albrecht: Reinkarnation – die tödliche Lehre, Schulte + Gerd, Asslar, 2 Aufl. 1989. Das Buch ist eine außergewöhnliche Sammlung von Unwahrheiten, Verdrehungen, Fehldeutungen, Irreführungen, Unsachlichkeiten und Missverständnissen über die Reinkarnation! 

 

Hebräisch, Aramäisch und Griechisch – Sprachen der Bibel

ot. Der größte Teil der Bibel (39 Bücher) ist in Hebräisch abgefasst, d.h. etwa drei Viertel des Gesamtinhalts der Bibel. Teile einiger Bücher sind auch in Aramäisch geschrieben. Die letzten 27 Bücher der Bibel wurden in Griechisch verfasst.

 

Bis zum 8. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung war der Unterschied zwischen der hebräischen und der aramäischen Sprache so groß geworden, dass sie als separate Sprachen bezeichnet wurden. Aramäisch war damals die Verkehrssprache des Nahen Ostens und diente als Diplomatensprache, aber die Mehrheit der Judäer verstand sie nicht. Die frühesten außerbiblischen Urkunden in Aramäisch stammen ungefähr aus derselben Zeit, und sie bestätigen den Unterschied zwischen den beiden Sprachen.

 

Ein auffälliges Merkmal des Hebräischen ist seine Kürze und Prägnanz, die auf den Satzbau zurückzuführen ist. Das Aramäische, das von den semitischen Sprachen mit dem Hebräischen am nächsten verwandt ist, hat einen vergleichsweise schwerfälligen, umständlichen und langatmigen Stil. Beim Übersetzen aus dem Hebräischen muss man sich oft mit zusätzlichen Wörtern behelfen, will man die Lebendigkeit, die Dynamik und die Bildhaftigkeit des hebräischen Verbs voll zum Ausdruck bringen.